Reitwein – fröhlich vereint im Protest

Seit vielen Wochen gibt es große Einschränkungen: Feste dürfen wir nicht veranstalten, Vereinstreffen sind verboten, genau wie Bürgerversammlungen und Konzerte. Und kurz vor dem Lockdown dann die Nachricht:  Die Putenmastanlage soll doch genehmigt werden!

Auch unsere Bürgerinitiative, die inzwischen über 30 Mitglieder hat, konnte sich nicht versammeln, um gemeinsam zu überlegen, was zu tun ist. Wie sollten denn alle erfahren, welche Schweinerei da passiert? Also haben wir uns kurzerhand zu dritt zusammengefunden. Und wir hatten eine Idee. Alles ist verboten, aber eine Demonstration ist erlaubt. Damit schlagen wir drei Fliegen mit einer Klappe:

  1. Wir informieren Reitwein und über MOZ, rbb und Co auch andere Menschen, die das interessiert
  2. Wir zeigen deutlich, dass die breite Mehrheit in Reitwein diese riesige Putenmastanlage nicht will, und
  3. Wir kommen endlich mal wieder als Dorf zusammen

Gesagt, getan. Als wir die Demo bei der Polizei anmelden, liegt die Obergrenze noch bei 50 und wir rechnen mit 30 Leuten. Schließlich ist Corona, manche gehören in die Risikogruppe und müssen vorsichtig sein, andere nutzen vielleicht die ersten Lockerungen, um endlich mal wieder Verwandte zu besuchen und Ausflüge zu machen. Am 28. Mai wird die Grenze auf 150 erhöht. Also schnell ein paar Zettel aufgehängt, Postkarten gedruckt und in Reitwein und der Loose eingeworfen, um alle einzuladen.

Der Sonntag sollte eigentlich trocken bleiben, aber schon am Vormittag regnet es. Roswitha Neumann hat genau nachgezählt, wie viele Unterschriften zuerst die Reitweiner Kinder und dann die Erwachsenen gesammelt haben: mehr als 330 insgesamt und über 230 allein aus Reitwein! Eine ganze Menge. Wir wollen für jede Reitweiner Unterschrift einen Mundschutz an eine lange Leine hängen. Damit alle sofort sehen, wie viele dagegen sind, auch wenn sie vielleicht zu Hause bleiben müssen oder sollen. Von Nachbarinnen haben wir Masken bekommen, die übrig waren, in der Familie wurde fleißig genäht. Bis wir fast 90 Stück zusammen haben. 100 Ballons sind auch gekauft. Und der Rest? Den hat Sonja von Wittich ganz nebenbei aus buntem Papier gebastelt – über 50 Stück!

 

 

Ein paar Stunden bevor es losgehen soll, sitzen wir zusammen unter den Bäumen vor dem Heiratsmarkt. Es tropft von den Blättern. Der Himmel ist grau. Auf der anderen Straßenseite befreit ein Nachbar den Gehweg von Unkraut. Familie Sajduk hat vorgelegt und der kleine Henryk, unser „Megapumper“, ist so schnell, dass der Wind die Ballons wegweht, bevor wir sie festknoten können. Also aufgesprungen und hinterher! Sein Papa baut derweil fachmännisch das Gerüst für das erste Banner auf. Der ein oder andere BI-Kollege kommt vorbei, packt mit an. Auf dem Kommando macht Stephan Eckert den Wagen für die Band fertig. Um 12 steht alles. Zeit für ein schnelles Mittagessen – Radio und Fernsehen haben sich für eins angekündigt.

Dann ist es soweit. 14 Uhr. Es hat aufgehört zu regnen. Der Himmel wird heller. Die Band lockt mit ihrer Funkmusik die Reitweiner auf den Platz. 30 Leute? Was haben wir uns verschätzt! Es wird immer voller. Wer sich umguckt, sieht alte Reitweiner und Kinder, Urgesteine und Neuverwurzelte, den Dorfkern und die Loosen – ein buntes Durcheinander. Wir zählen, der rbb zählt, der Deutschlandfunk zählt, die Polizei zählt. Geradeso müssen wir niemanden abweisen. Es sind fast genau 150 Menschen gekommen! Auch die Landtagsabgeordnete Bettina Fortunato von der Partei die Linke ist da und hört sich an, was wir zu sagen haben.

 

 

Nachdem die Gemeinde 2017 gegen das Vorhaben gestimmt hat, erzählt Detlef Schieberle, wollte auch das Bauamt den Antrag erst einmal nicht genehmigen. Dann langes Stillschweigen. Immer hieß es: Läuft noch, nichts entschieden. Und dann, kurz vor dem Lockdown, der Brief: Wir wollen doch genehmigen. Drei Jahre hatte die GmbH mit ihren bezahlten Profis Zeit, am Antrag zu feilen. Reitwein und seine ehrenamtliche Gemeindevertretung bekam vier Wochen. Vier Wochen, um mehr Seiten Verwaltungsdeutsch durchzuarbeiten, als das Dorf Einwohner hat. Zwei dicke Aktenordner voll.

 

 

Ohne den Sach- und Fachverstand vor allem von Johannes gr. Darrelmann, unserem Bauausschussvorsitzenden, wäre das nie gelungen! Aber es ist gelungen. Noch einmal hat sich die inzwischen neu besetzte Gemeindevertretung einstimmig gegen die Putenmast ausgesprochen und 16 Seiten mit Argumenten an das Bauamt zurückgegeben.
Wer sich im Dorf umhört, merkt schnell, die meisten sagen Nein zur geplanten Putenmastanlage. Manche sind strikt dagegen, wollen aber nicht zum Protest kommen, weil sie Angst vor Nachteilen haben, wenn die ODEGA sie dort sieht. Andere fragen: Was soll ich dagegen haben? Oder finden: Landwirtschaft hat es hier immer gegeben.

 

 

Auf der Demo und auch in der Bürgerinitiative hat niemand etwas gegen Landwirtschaft. Im Gegenteil. Wir sind in Reitwein geboren, oder irgendwo auf dem Land aufgewachsen, manche sind selbst in der Landwirtschaft. Wir wollen mehr Landwirtschaft in und um Reitwein, auch gerne mehr Tierhaltung! Aber das ist auf unserem alten LPG-Gelände nicht geplant.

Geplant ist eine Fabrik, ein vollautomatisierter Industriebetrieb. Dort werden Tiere nicht gehalten, sie leiden. Sie leben so dicht gedrängt, wie es ein echter Landwirt seinen Tieren nie antun würde. Sie sind so gezüchtet, dass ihnen vor lauter Brustfleisch die Sehnen in den Beinen reißen, sie vornüber kippen und nicht mehr aufstehen können aus ihrem eigenen Kot. Und so werden sie krank.

 

 

Pute ist das Fleisch, das von allen am meisten belastet ist mit Antibiotika. 40% von denen, die in der Geflügelmast eingesetzt werden, sind sogenannte Reserveantibiotika. Die bekommen Menschen nur sehr selten als letzes Mittel, wenn alles andere versagt. Weil die Erreger sonst resistent werden und sie nicht mehr wirken.

Die Bundesregierung hat festgestellt: Je mehr Tiere in einem Betrieb sind, desto häufiger bekommen sie Medikamente. Das ist für die Tiere schlimm und für uns Menschen. Durch Corona erleben wir, was passiert, wenn wir gegen eine Krankheit kein Medikament haben. Auch bei multiresistenten Keimen können Ärzte nur beim Sterben zugucken. Wer will so eine Keimschleuder direkt am Dorf?

Die Verantwortlichen für die Massenmastanlagen sind die wahren „Zugvögel“. Bei den Hähnchen die Holländer von Friki bzw. Plukon, bei uns soll es, wie es heißt, Heidemark aus Niedersachsen sein, der größte Putenverwerter Europas. Solche Konzerne kommen nach MOL, kaufen sich hier ein – oft ohne Grunderwerbssteuer zu zahlen – und richten Schaden an.

Sie ziehen hier nicht ihre Kinder groß, wie die jungen Familien, die in den letzten Jahren nach Reitwein gekommen sind. Ihnen ist es egal, ob die Schwangeren und Alten das Leitungswasser in fünf Jahren nicht mehr trinken können, wie in manchen Regionen in Niedersachsen. Oder ob die Böden in 15 Jahren zerstört sind. Ob unsere Grundstücke irgendwann nichts mehr wert sind. Ob ihre Anlage stinkt und Lärm macht und im Dorf die Einnahmen im Tourismus wegbrechen. Sie vernichten Arbeitsplätze, ohne neue zu schaffen. Und sitzen zu Hause in Niedersachsen oder Holland oder sonstwo und streichen Geld ein, bis es sich nicht mehr lohnt und sie weiterziehen.

In Brandenburg passiert das überall, auch in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Das ist ein Problem. Wir lassen uns über den Tisch ziehen. Deshalb wird gerade ein Gesetz gegen solche Machenschaften vorbereitet. Und auch in Reitwein ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wir kämpfen weiter. Ohne uns überrumpeln zu lassen. Oder spalten in die „echten“ und die „neuen“ Reitweiner.

Denn alle, die hier leben, wollen dasselbe: Ein lebenswertes Dorf für uns und unsere Kinder, jetzt und in Zukunft.

 

Für Unser Reitwein:
Nina Keller, Agnieszka Sajduk, Nadine Schmid
Karikatur: Jana Kotte
Fotos: Verena Brandt

 

Kompletter Artikel als PDF: Reitwein – fröhlich vereint im Protest

U.a. berichtete auch der Deutschlandfunk über unseren Protest: https://www.deutschlandfunk.de/umwelt-und-verbraucher.696.de.html#